„Du kannst nicht die ganze Welt retten!“

Mit diesem Ausrufezeichen beendete Carla unser Telefonat. Ein Nachhall im Raum klingt nach „aber“. Hinter uns liegt ein intensives Gespräch über ihre Trennung von Peter und den plötzlichen Tod einer gemeinsamen Bekannten.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Carla hat einen besonderen Humor und ihre Sprechgeschwindigkeit ist an manchen Tagen wirklich beeindruckend:
„Man muss die richtigen Fragen stellen. Vor allem sich selbst. Weißt Du, es trat unvermutet deutlich in Erscheinung, als Peter und ich den Garten winterfest machten. Routiniert wie in all den Jahren zuvor, arbeiteten wir an diesem frühen Nachmittag stumm nebeneinander. Während ich zupfte und vorsichtig abdeckte, zeigten sich in mir Gefühlsbilder aus dem vergangenen Sommer, meine Sehnsucht nach Lebendigkeit, nach Fülle und Freude, nach Tanzen, Freundinnen und nach einer sinnvollen Arbeit. Es rumorte. Und es war mir unmöglich meine Empfindungen mit Peter zu teilen. Am liebsten hätte ich mich in die Erde und nach innen zurückgezogen, so, wie die Pflanzen es mir gerade vorlebten. Die Pflanzenwelt hatte geblüht, Früchte hervorgebracht und bewegte sich nun ihrem Zyklus folgend in die Ruhephase, Kräfte tanken, das Potential nähren und geduldig diese stille Seite der Bestimmung auskostend. Ob Pflanzen sich auch kritisch mit Vertrauen und Hingabe auseinander setzen? Nach Sinnerfüllung suchen? Abschied nehmen und trauern, dass der Sommer vorüber ist? Oder ob sie sich in ihrem offensichtlichen Kommen, Werden und Vergehen geborgen und froh fühlen in einem geklärten Wissen um ihre Aufgabe?
Für Peter sind meine Fragen fremd geblieben in unseren Jahren. Sein gewählter Rahmen gab ihm schon immer die Sicherheit, die er brauchte. Die Arbeit in der Buchhaltung, der Kegelverein, die Kirche. Und ich mit „meinem“ Haushalt gehörte auch dazu. Ja, sicher fühlte es sich an in unserem Lebensentwurf. Ein kleines übersichtliches Paradies aus scheinbaren Gewissheiten. Gut versorgt und ohne Anspruch an irgendeine Variante der Beteiligung an der Rettung der gefährdeten Welt über den eigenen Gartenzaun hinaus. Es gab eine Zeit, in der ich das brauchte für meine gesunde Entwicklung. Von seiner Zufriedenheit mit dem, was ist, konnte ich viel lernen. Dafür bin ich Peter und den Umständen und Fügungen wirklich sehr dankbar. Aber das Rumoren blieb diesmal den ganzen Winter, gut beschnitten, gezupft und abgedeckt von Gewohnheiten. Mit den ersten Lichtstrahlen des frühen Jahres wurden die jungen Fragen an mich selbst aus meiner Tiefe geboren. Sie kamen auf die Welt und wuchsen unablässig. Ich war unsicher. Und dann starb Beatrice. Plötzlich. Einfach umgefallen ist sie, auf dem Weg vom Sofa ins Badezimmer. Sie war doch noch jung, so fröhlich und hatte jede Menge kreative Projekte am Start! Sie engagierte sich für zukunftsfähige Bildung. Freiberuflich. Sie hatte einen gut bezahlten Job in der Damenoberbekleidung aufgegeben um ihrem inneren Ruf zu folgen. Ich war so beeindruckt von diesem Mut, die Komfortzone und veraltete Idealvorstellungen zu verabschieden und nagenden Zweifeln Grenzen zu zeigen. Bei unserem letzten Treffen erzählte sie mir völlig begeistert von ihren ersten Online Workshops in Schulen, in denen sie Zusammenhänge zwischen Klimakrise und aktueller Sterbekultur, Hierarchien und linearen rationalen Konzepten beleuchtete. Ihre Impulse für ein zyklisches Lebensverständnis, Gleichwertigkeit, Wohlwollen und aktive „Inner Work“ fielen auf fruchtbaren Boden. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern verabschiedete sie Paradiese der Vergangenheit und bildete Lernräume für gesunde Zukünfte. Meine Trauer und Wut über ihren frühen Tod wurden schließlich zum Motor für mich. Ich besuchte ihr Grab. Hey, Beatrice! Ich denke oft an Dich. Im nächsten Leben geht’s weiter, was meinst Du?! Einstweilen danke für Deine wertvolle, dynamische Hinterlassenschaft. Es ist unmöglich, die ganze Welt zu retten, aber etwas kann ich ganz sicher dazu beitragen. Das hast Du mir gezeigt.“
Unser Telefonat nahm Fahrt auf. Carla erzählte mir von ihren Fragen und wollte Antworten, auch von mir: Was ist wirklich wesentlich? Wie gelingt es, das Unwillkommene willkommen zu heißen? Bin ich bereit für Veränderungen? Wie wäre es um uns bestellt, wenn wir alle zunehmend den mütterlichen Prinzipien der Fürsorge und der Verbundenheit folgen würden? Wenn wir alle den Mut hätten, die alten Paradiese zu verabschieden? Wie können wir Abschied nehmen lernen? Und was brauchen wir um Geburt und Tod als die beiden Seiten einer Hand zu erkennen?
Draußen ging die Sonne unter. Carla hört auch richtig gut zu. Und ja, es stimmt wohl. Ich kann nicht die ganze Welt retten. Während das Telefon abkühlt, sitze ich nun hier. Ich lausche. Und fühle mein Rumoren deutlicher denn je…….

Eva Keller | forum8.de